Stil kennt keine Höhenmeter
Manche Mütter und Töchter teilen ein Netflix-Abo. Wir teilen die Leidenschaft für alles, was Körper, Geist und Kleiderschrank in Bewegung bringt – Yoga im Morgengrauen, spontane Opernbesuche, Sightseeing mit Espresso in der Hand, Shopping ohne Reue. Kurz: Wir sind ein eingespieltes Duo mit Hang zur Selbstironie und einer gewissen Trittsicherheit – im Leben wie am Berg.“
Unsere Regel lautet: Gemeinsam raus, aber bitte mit Stil.
Nicht im Sinne von überinszenierter Perfektion – eher als stiller Anspruch, dem Leben auch in Wanderstiefeln mit Haltung zu begegnen.
Und so tauschen wir diesmal den Theaterbalkon gegen Bergpanorama, das Spa gegen die Berghütte, und die Yogamatte bleibt ausnahmsweise zuhause. Ob das gemütlich wird? Sicher nicht immer. Ob’s uns gefällt? Ganz bestimmt.
Anreise ins Alpstein – fünfmal Umsteigen, null Drama
Eigentlich war der Plan ganz einfach: Mit der ÖBB-Sparschiene von Linz nach Wasserauen, dreimal umsteigen, entspanntes Ankommen, fast schon Bilderbuch-Bahnromantik. Aber wer die ÖBB kennt, weiß: Pläne sind da, um geändert zu werden.
Also flatterte kurz vor Abfahrt die freundliche Nachricht ins Postfach: „Ihre Verbindung wurde geändert.“ Im Klartext: statt drei Umstiegen nun fünf. Fünf! Als Draufgabe kam auch noch Schienenersatzverkehr zwischen Salzburg und Innsbruck. Und das mit Rucksäcken und knapper Taktung.
Was als Nervenprobe begann, entpuppte sich als überraschend reibungslos. Jeder Anschlusszug war pünktlich, wir hasteten mit Würde über Bahnsteige, schleppten Gepäck wie Profis – und kamen tatsächlich gegen 14.00 Uhr in Wasserauen an.
Das Resümee? Manchmal ist es besser, gar nicht erst auf die Idylle einer perfekten Zugfahrt zu hoffen. Dann freut man sich umso mehr, wenn trotz fünfmal Umsteigen alles klappt.
Dann also: Umsteigen, umdenken, umarmen – das Leben in all seinen Kapriolen. Der Alpstein ruft. Und wir kommen.
Tag 1: Über den Dingen – Willkommen auf der Ebenalp
" Ankommen ist ein Gefühl, nicht ein geografischer Zustand."
Nach einer Zugreise mit unerwarteter Abenteuerkomponente – fünfmal Umsteigen, aber immerhin ohne verlorene Tochter oder Wanderschuhe – erreichen wir Wasserauen, das Ende der Bahnlinie und der Anfang von allem, was zählt: Stille, Aussicht, Leichtigkeit.
Von hier schwebt die Seilbahn auf knapp 1.600 m Höhe. Eigentlich der Moment, um einfach still den Blick über Wiesen, Kuhglocken und Felswände schweifen zu lassen.
Eigentlich. Denn ich hatte anderes zu tun: hysterisch die Geldbörse suchen. Während andere in Zeitlupe das Panorama genießen, wühlte ich im Rucksack, überzeugt, sie am Seilbahnticketschalter vergessen zu haben. Ende der Geschichte: Die Börse war natürlich sicher verstaut. Der Anblick aufs Wildkirchli? Verpasst. Aber wenigstens wusste ich, dass ich oben zahlen konnte. Meine Tochter verdrehte nur die Augen: „Mama, wir sind seit 10 Minuten unterwegs – neuer Rekord.“ Und genau so fühlte es sich an: Das Abenteuer hatte noch gar nicht richtig begonnen – und schon hatte es seinen ersten komischen Höhepunkt.
Oben empfängt uns das Panorama dann trotzdem mit voller Wucht.
Die Ebenalp ist so etwas wie das Schaufenster des Alpsteins – bequem mit der Seilbahn erreichbar, und doch sofort mitten im Gebirge. Oben starten die Paragleiter von der Wiese unterhalb der Bergstation, bunt wie Konfetti vor grauen Felswänden. Ein paar Schritte weiter lockt das Wildkirchli mit seinen Höhlen und der kleinen Felskapelle, gleich daneben der berühmte Aescher, der wohl meistfotografierte Gasthof der Schweiz, dramatisch an den Felsen geklebt.
Check-in mit Weitblick
Wir beziehen unser Quartier im Gasthaus Ebenalp – rustikal, aber charmant. Das Zimmer ist schlicht, aber das Fenster zeigt direkt in die Weite. Stil liegt eben nicht im Interior, sondern im Ausblick.
Wanderung zu den Wildkirchli-Höhlen
Dann machen wir uns auf den Weg zum Wildkirchli – einer der magischsten Orte im ganzen Alpstein. Der Pfad beginnt direkt beim Gasthaus, führt sanft bergab, vorbei an satten Wiesen und dann... hinein ins Felsgestein.
Nach etwa 15 Minuten erreichen wir die Wildkirchli-Höhlen, ein Ensemble aus prähistorischer Geschichte, religiöser Andacht und natürlicher Dramatik. Der schmale Felsweg ist gesichert, aber nichts für Höhenängstliche – zur Rechten die Wand, zur Linken der tiefe Abgrund.
Gut, dass meine Tochter bereits erwachsen ist - Leine hätte ich keine dabeigehabt.
Die Höhlen selbst wirken wie aus einer anderen Zeit. Vor 50.000 Jahren lebten hier Neandertaler, später Einsiedler. Heute stehen wir mit Wanderschuhen und Wanderstöcken da und flüstern – weil lautes Reden hier irgendwie fehl am Platz scheint.
Ein paar Schritte weiter, am Ende des Felsbandes, liegt die kleine Kapelle im Fels, das eigentliche Wildkirchli. Sie ist klein, feucht und still – und trotzdem wirkt sie groß. Vielleicht, weil Orte, die keinen Prunk brauchen, uns am meisten berühren.
Nur wenige Minuten weiter steht das wohl berühmteste Berggasthaus der Schweiz: der Äscher, spektakulär an die Felswand geklebt.
Einst Geheimtipp, heute Fotomagnet – und wir lassen uns nicht lumpen. Erst ein Getränk mit Panorama, dann doch noch eine kleine Jause. Und weil’s so schön passt: ein Glas Appenzeller Whisky.*
Ja, richtig gelesen: Zwischen Alpenrosen und Kuhglocken findet man im Alpstein tatsächlich Whisky-Destillerien. Mitten im Bergidyll wird gebrannt, gelagert und verkostet – ein Schluck Hochland, nur eben auf Schweizer Art. Aber diesmal? Definitiv nichts. Zu viel Weg, zu viel Gepäck, zu wenig Muße und die Berge sind berauschend genug.
Danach folgen wir dem Rundweg zurück zur Ebenalp. Der Schritt beschwingt, hier ein Fotostopp, dort ein Sonnenstrahl – die Art von Rückweg, auf dem man mehr schwebt als geht.
Zurück auf der Terrasse des Gasthauses genießen wir den Abend, wir bewundern das Alpenpanorama das aussieht als hätte es jemand mit Goldstaub überzogen. Dazu ein Glas Wein, Die letzten Paragleiter schweben ins Tal. Einer hat sichtlich Mühe, wir fiebern mit – bis er schließlich doch noch davonsegelt.
Kurz vor dem letzten Sonnenstrahl ziehen wir uns zurück ins Zimmer. Müde, zufrieden und voller Vorfreude auf die nächsten Tage.
„Mein Rucksack und ich – eine Zweckgemeinschaft“
Beim Packen ist man immer Philosoph und Minimalist zugleich: „Man braucht ja fast nichts.“ Zwei Minuten später liegt dann doch alles am Boden: Regenjacke, Fleece, Ersatzsocken, Erste-Hilfe-Set, Stirnlampe, Ladekabel, Sonnencreme, Wanderstöcke, eine kleine Drogerieabteilung – und irgendwo dazwischen die Schokolade für alle Lebenslagen.
Am Ende wiegt der Rucksack rund zehn Kilo. Klingt wenig, fühlt sich am ersten Anstieg an wie drei Zementsäcke. Jeder Schritt erinnert daran, dass man die Hälfte der Dinge ohnehin nie brauchen wird.
Und dann passiert das Wunder: Nach ein paar Stunden geht der Rucksack in Fleisch und Blut über. Man hört auf zu zählen, zu jammern, zu vergleichen – er wird einfach Teil von einem. So sehr, dass man irgendwann vergisst, dass man ihn überhaupt trägt.
Packliste – zehn Kilo Stil & Überleben
👕 Kleidung
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Funktionsshirt (atmungsaktiv – oder so ähnlich)
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Fleecejacke (gegen Abendkühle & modische Nüchternheit)
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Regenjacke (nie Lust, sie anzuziehen – bis es zu spät ist)
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Ersatzsocken (3 Paar, weil nasse Socken schlimmer sind als kein Wein)
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Unterwäsche (logisch, aber gern vergessen)
🧴 Kleinkram & Notwendiges
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Sonnencreme (für die eine Stelle, die man garantiert vergisst)
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Stirnlampe (für den Fall, dass „nur noch 10 Minuten“ doch 2 Stunden werden)
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Erste-Hilfe-Set (inkl. Blasenpflaster, die man hoffentlich nicht braucht)
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Ladekabel & Powerbank (denn was ist ein Gipfel ohne Akku?)
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Wanderstöcke (praktisch, aber ständig im Weg)
🍫 Proviant
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Schokolade (Medizin, Seelentröster, Motivation in Tafelform)
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Nüsse oder Trockenfrüchte (gesund klingt immer gut)
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Wasserflasche (gefüllt – zumindest am Start)
📸 Optionales
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Kamera oder Handy (für Beweisfotos & „War wirklich da“-Momente)
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Ein Hauch Grandezza (passt in jede Seitentasche, wiegt nichts)
Tag 2 – Ebenalp → Schäfler → Mesmer
"Wandern ist die Kunst, langsam genug zu gehen, um alles mitzubekommen - inklusive der eigenen Gedanken."
Der Morgen beginnt, wie er in den Bergen beginnen sollte: mit einem Frühstück, bei dem der Blick fast sättigender ist als das Brot. Die Ebenalp liegt noch im weichen Licht, und während die ersten Wanderer in der Ferne auftauchen, schultern wir unser Gepäck und machen uns auf den Weg.
Der Anstieg zum Schäfler ist ein Fest für Augen und Beine: sanft ansteigende Wiesen, ein paar felsige Passagen, und immer wieder Blicke ins Tal, die wie aus einer alten Schweiz-Postkarte wirken.
Oben erwartet uns nicht nur das Gipfelkreuz, sondern auch eine Kuh, die offenbar beschlossen hat, Teil unseres Gipfelfotos zu werden. Wir nehmen es als gutes Omen.
Vom Gipfelkreuz sind es nur noch ein paar Schritte hinüber zum Gasthaus Schäfler.
Beim Gasthaus Schäfler angekommen, bestelle ich mir erst einmal einen großen Weißwein gespritzt. Erstes Gipfelkreuz und Gipfelglück – beides gehört gefeiert. Die Aussicht ist grandios, der Himmel weit, und meine Beine fühlen sich plötzlich federleicht an.
Kulinarische Sprachrätsel in den Schweizer Bergen
Essen in den Schweizer Bergen ist eine eigene Kategorie – und nicht nur wegen der Preise. Schon die Bezeichnungen klingen wie kleine Rätsel. Auf der Speisekarte vom Schäfler stolpere ich über Chäshörnli, Schüblig und Schlorzifladen. Klingt wie eine Mischung aus Zaubersprüchen und Möbelkatalog.
Zum Essen ist es eigentlich noch zu früh – aber die Neugier bleibt. Chäshörnli bestehen aus Käse und Nudeln serveriert mit Zwiebeln und Apfelmus. Schüblig – eine Wurst, die klingt, als müsse man sie eher im Werkzeugkoffer als auf dem Teller suchen. Und Schlorzifladen? Ein Dessert mit Birnen, das fast schon poetisch klingt, aber vermutlich mehr Kalorien hat als der Aufstieg zur Ebenalp.
Ich hätte ja gern gekostet – doch zwischen Gipfelkreuz und Gasthaus war einfach noch zu wenig Zeit vergangen. Aber eines ist sicher: in der Schweiz bestellt man nicht nur ein Essen, man bucht ein kleines Sprachabenteuer gleich dazu.
Tief unten im Tal liegt die Meglisalp. Winzig hingestreut, ein paar Dächer wie Spielzeughäuschen, eingerahmt von senkrechten Felswänden. Von hier oben wirkt der Weg dorthin fast wie ein gemütlicher Almspaziergang, wenn da nicht dieser unverschämte Abgrund läge, der uns ziemlich deutlich erklärt: Spaziergang wird das keiner.
Aber heute geht es noch nicht auf die Meglisalp. „Nur noch anderthalb Stunden bis zum Mesmer“, sage ich beschwingt. Ein Klacks, ein Spaziergang – schließlich haben wir den schwierigsten Teil doch schon hinter uns. Schade eigentlich, denke ich.
Spoiler: Noch ahne ich nicht, dass genau diese „anderthalb Stunden“ mich heute fast an meine Grenzen bringen werden.
Vom Berggasthaus westwärts führt die Route ausgesetzt um den Schäflergipfel herum. Hier wird der Pfad plötzlich ernst: links eine fast senkrechte Felswand, rechts fällt der Hang steil ins Tal ab. Der Weg ist stellenweise kaum breiter als zwei Fuß nebeneinander, und an einigen Passagen gibt es nichts zu Halten – nur die Gewissheit, dass man hier nicht stolpern möchte. Die großen Rucksäcke machen die Balancearbeit nicht leichter. Jede Drehung, jeder Schritt muss bewusst gesetzt werden. Der Pfad wird schmaler, steiler und fordert volle Konzentration. Mit ruhigen Schritten und vorsichtigem Blick tasten wir uns voran. Jeder Meter fühlt sich an wie ein kleiner Sieg.
Obwohl es immer noch steil bergab geht, wird der Weg etwas einfacher. Endlich bleibt Zeit, die Aussicht zu genießen: schroffe Felswände, tiefe Täler und irgendwo ganz klein das Gasthaus Mesmer.
Die Felsen rücken ein Stück zurück, der Pfad wird breiter. Ein Enzian blinzelt zwischen den Steinen hervor , und plötzlich passt wieder alles – bis der Blick zum Mesmer fällt, der immer noch verdächtig weit entfernt wirkt.
Über ein weiteres abfallendes Wegstück erreichen wir den Streckenbergsattel, bevor es quer über steile Hänge zum Mesmer geht. Von Weitem wirkt er wie ein Ruhepol, von Nahem wie eine Erlösung – und spätestens jetzt weiß man: „nur noch anderthalb Stunden“ kann sich sehr, sehr lang anfühlen.
Fast geschafft!
Als wir schließlich die Terrasse des Mesmer erreichen, fällt nicht nur die Anspannung ab, sondern auch ein erleichtertes Lächeln ins Gesicht. Hier oben herrscht eine andere Zeitrechnung: Rösti und frischer Salat, dazu ein kühles Getränk und das Wissen, dass das Zimmer für die Nacht schon bereitsteht.
Der Mesmer ist so etwas wie die stille Majestät im Alpstein – keine spektakuläre Felsdramaturgie wie beim Aescher, sondern eine wohltuende Ruheinsel. Auf knapp 1.600 Metern liegt das Gasthaus wie hingetupft ins Tal, umgeben von Weiden und imposanten Bergwänden. Drinnen warten deftige Klassiker – Rösti in allen Variationen, Salate, hausgemachte Kuchen – und, wenn man Glück hat, ein Zimmer mit Bad. Fast schon Luxus im Hochgebirge. Wer hier übernachtet, erlebt Stille, die nur von Kuhglocken und Wetterwechseln unterbrochen wird. Ein Gasthaus, das sich nicht in Szene setzen muss – weil es ganz einfach da ist, wenn man es braucht.
Hüttengeflüster – zwischen Bergidylle und Jeton-Dusche
Hütten in den Bergen haben ihren ganz eigenen Charme. Manche nennen es „ursprünglich“, andere „spartanisch“, wir nennen es: die große Gleichmacherei. Ob Manager, Studentin oder Großmutter – hier liegen alle nebeneinander im Matratzenlager und hören denselben Kanon aus Schnarchen, Zähneknirschen und Rascheln.
Dann die Sache mit der Bettwäsche. Offiziell gibt es sie natürlich frisch. Inoffiziell hält sich hartnäckig der Mythos, dass die Laken länger im Einsatz sind als manche Hüttenwirte. Daher gehört der Hüttenschlafsack zum Standardgepäck – praktisch, hygienisch, und man schläft auch gleich mit dem beruhigenden Gefühl, nicht Teil der Legende zu werden.
Die Hüttenpantoffeln – ein Kapitel für sich. Meist Crocs in allen Farben des Regenbogens, die schon hunderte Füße gesehen haben. Man schlüpft hinein, denkt kurz an den Desinfektionsmittelspender, der nicht da ist – und schlurft dann trotzdem los. Denn wer in Bergschuhen durchs Holz knarzt, hat sofort die halbe Gaststube gegen sich.
Und dann: das Duschen. Nichts bringt die Realität schneller zurück als ein Münzautomat, der einem für 1 Jeton ganze 2 Minuten verspricht. In Wahrheit: 8 mal 15 Sekunden. Start – stopp – start – stopp. Ein rhythmisches Schauspiel, das einen zwischen Shampoo und Panik entscheiden lässt. Luxus sieht anders aus – aber irgendwie macht genau das den Reiz aus.
Hüttenglück – mit Deluxe-Upgrade
Zugegeben: Unser Abenteuer im Alpstein hatte weniger von knarrenden Matratzenlagern und Jeton-Duschen – und mehr vom Luxus light. Doppelzimmer statt Lager, frische Bettwäsche statt Hüttenschlafsack, manchmal sogar ein eigenes Bad (Mesmer, wir verneigen uns!). Auf der Meglisalp fühlte es sich fast wie ein kleines Hotel an – nur mit Kühen vor der Tür statt Parkplätzen.
Natürlich schmälert das nicht die Bergromantik – im Gegenteil. Nach einem langen Tag über ausgesetzte Pfade und steile Abstiege war es einfach herrlich, die Türe hinter sich zu schließen, die Schuhe ins Eck zu stellen und zu denken: „Abenteuer ja, aber mit Grandezza, bitte.“
Der Säntis – unser Endgegner
Von Anfang an stand er als Höhepunkt im Plan: eine Wanderung mit Steigerung. Erst die romantische Äscherrunde, dann die herrliche Schäflerrunde, die Ageteplatte, ein Abstecher zum Seealpsee, schließlich die Rotsteinpasshütte – und als Finale der Lisengrat mit dem Säntis. So war die Theorie.
Die Praxis sah anders aus. Am Ende des zweiten Tages haben wir uns bewusst gegen den Lisengrat entschieden. Warum? Mehrere Gründe:
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Die Wanderung zur Mesmerhütte hat mir gezeigt, dass Sicherheit wichtiger ist als Ehrgeiz.
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Es ist ein Unterschied, ob man in einer Gruppe „einfach mitläuft“ oder die Verantwortung trägt – für sich selbst und für die eigene Tochter.
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Das 10-kg-Gepäck ist zwar nicht dramatisch, verschiebt aber den Schwerpunkt merklich.
- Die Wetteraussichten sind nicht gerade vielversprechend
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Und ja: Meine Planung war etwas zu sportlich. Montag Lisengrat, dann Abstieg, Öffis nach Buchs, von dort mit dem Zug nach Hause – und Dienstag früh gleich wieder Termine. Ein strammes Programm, selbst ohne Nebel, Regen und Sonne im 10-Minuten-Takt.
Also kein Lisengrat. Keine Drahtseil-Akrobatik, kein Endgegner. Stattdessen Vernunft – und ein Plan B, der genauso viele Geschichten schreibt.
Kulinarik am Berg – zwischen Müsliriegel und Rösti-Rausch
Essen beim Wandern ist eine eigene Disziplin. Am Anfang denkt man: „Ich packe nur das Nötigste ein.“ Das Nötigste ist dann Schokolade, Nüsse, vielleicht ein Apfel – und drei Müsliriegel, die schon beim ersten Anstieg zerdrückt sind. Spätestens nach zwei Stunden schmeckt selbst ein trockenes Brot mit Käse wie ein Feinschmecker-Menü.
Doch der wahre Zauber passiert in den Hütten. Da sitzt man verschwitzt, zerknittert, halb erschöpft – und plötzlich liegt ein Rösti vor einem, dampfend und goldbraun. Dazu ein Salat (meist eher symbolisch, aber immerhin grün) und ein Glas Bier oder Wein. Plötzlich ist alles gut, die Beine vergessen ihre Mühen, und man versteht, warum es heißt: „Die beste Würze ist der Hunger.“
Besonders spannend ist die Bergküche, weil sie oft mit wenigen Zutaten auskommt und trotzdem glücklich macht. Käse, Kartoffeln, Brot – mehr braucht es nicht, um ein Kapitel der kulinarischen Bergromantik zu schreiben. Wer dann noch Nachtisch ergattert (Apfelstrudel oder hausgemachter Kuchen), fühlt sich fast wie im Schlaraffenland auf 2.000 Metern.
Und das Schönste: Draußen vor der Tür grasen Kühe, drinnen klirren Gläser – und man weiß: Nirgendwo schmeckt einfaches Essen so gut wie dort, wo man es sich ehrlich erwandert hat.
Tag 3 – Wetterkapriolen und Ageteplatte
„Manchmal ist der Berg klüger als der Wanderer“
Ab dem dritten Tag beschleicht mich ein Gefühl: Irgendetwas will nicht, dass wir auf den Säntis steigen. Am Morgen noch strahlender Sonnenschein – und ich beginne zu überlegen, ob wir es nicht doch wagen sollen. Ein Blick aufs Handy: die Wetter-App verspricht Sonne bis Mittag. Perfekt, denke ich. Doch kaum ausgesprochen, fällt der Nebel ohne jede Vorwarnung über uns herein, dick, grau, als hätte jemand einen Vorhang zugezogen.
Den Lisengrat und die Rotsteinpasshütte hatte ich schon im Vorfeld gestrichen – zu exponiert, keine wirkliche Ausweichmöglichkeit zurück. Aber über die Wagenlücke gäbe es noch immer einen Weg zum Säntis. Ich hadere kurz – und entscheide dann: Gut, eben nicht.
Almabtrieb am Morgen
Bevor wir überhaupt loskommen, geraten wir mitten in ein Schauspiel der besonderen Art: den Almabtrieb. Hunderte Kühe und Kälber werden von den Hirten zusammengetrieben, die Luft erfüllt von Rufen und Glocken. Jede einzelne Kuh trägt hier ihr eigenes Klanginstrument, und zusammen ergibt das ein Glockenkonzert. Ein mords Spektakel, chaotisch und faszinierend zugleich – und für uns ein höchst lebendiger Start in den Tag.
Auf dem Weg zum Aufstieg über die Ageteplatte wird der Nebel immer dichter.
Im Zickzack zieht sich der Weg durch eine felsige Passage, Sicherungsseile geben Halt, die Konzentration ist hoch.
Im Nachhinein gar nicht so schlecht, dass wir im Nebel klettern mussten: Man sieht weniger Abgrund, und das schont die Nerven. Dann setzt auch noch Regen ein. Keine Lust, die Regenjacke hervorzukramen – stattdessen schnell die Rucksackhülle übergezogen und weiter.
Die letzten Meter! Dichter Nebel, der jede Aussicht verschluckt und den Horizont löscht. Jeder Schritt fühlt sich an wie ein kleiner Vertrauensvorschuss ins Grau. Panorama? Fehlanzeige.
Oben angekommen, passiert ein Wunder: Der Nebel verzieht sich genauso abrupt, wie er gekommen ist.
Plötzlich liegt die Meglisalp glasklar vor uns, ein Bilderbuchpanorama zum Durchatmen.
Es kommt nochmal der Gedanke an den Säntis. Drei Stunden, heißt es, wären es von hier. Drei Stunden – klingt fast machbar. Doch kaum, dass der Gedanke Form annimmt, setzt Regen ein. Dann Donner. Dann Blitze. Ein ziemlich unmissverständlicher Kommentar von oben. Schon gut, wir kapieren’s: Der Säntis wird gestrichen. Punkt. Also weiter zur Meglisalp.
Als wir bei diesem Schild Richtung Meglisalp abbiegen – und eben nicht zum Säntis – macht auch der Himmel mit: Er reißt auf, als wolle er sagen „endlich habt ihr’s kapiert“. Von da an gehen wir im strahlenden Sonnenschein.
Unten glitzert schon der Seealpsee, und als wir schließlich auf der Meglisalp ankommen, sind Hose und T-Shirt längst wieder trocken. Meine beiden Regenjacken? Natürlich brav im Rucksack verstaut. Immerhin: Sie hatten einen schönen Ausflug.
Die Meglisalp ist ein Ort, der wirkt, als wäre er einem Märchenbuch entstiegen. Auf 1.520 Metern liegt das kleine Bergdorf mit Kirche, Gasthaus und ein paar verstreuten Hütten, umrahmt von steilen Wänden und immer mit Blick zum Säntis. Wer nach dem Aufstieg vom Seealpsee oder der Traverse über die Ageteplatte hier ankommt, stolpert förmlich aus dem Fels in eine Postkartenidylle.
Das Gasthaus Meglisalp ist fast schon ein kleines Hotel – freundliche Stuben, gepflegte Zimmer, und die Küche überrascht mit mehr Raffinesse, als man in dieser Höhe erwarten würde.
Auf der Meglisalp angekommen, gönnen wir uns erst einmal ein herzhaftes Mittagessen. Die Zimmer sind allerdings erst ab 16 Uhr bezugsfertig, also heißt es: Zeit vertreiben. Von der Terrasse aus entdecken wir ein kleines Gipfelkreuz in der Nähe. Also machen wir uns auf den Weg dorthin. Oben angekommen, legen wir uns ins Gras, schließen die Augen und lassen uns die Sonne auf den Bauch scheinen – gerade noch rechtzeitig, bevor sie endgültig hinter den Wolken verschwindet. Sonnenbaden deluxe: kein Pool, kein Cocktail, dafür Kuhglocken-Soundtrack und gratis Wolkenshow.
Im Hintergrund die Ageteplatte – und ja, da sind wir heute Morgen wirklich rübergeklettert.
Tag 4 – Nebel, Seealpsee und Selfie-Hype
„Manchmal sieht man den Weg erst, wenn man trotzdem weitergeht.“
Auch heute meint es der Wettergott nicht besonders gut mit uns. Vom Start weg begleitet uns dichter Nebel – so dicht, dass wir manchmal nur unsere eigenen Schritte ahnen. In der Hoffnung auf ein Wunder brechen wir Richtung Seealpsee auf. Doch der Nebel bleibt hartnäckig.
Planung ist alles – und nichts
In den Bergen lernt man schnell: Der beste Plan überlebt meist nur bis zum ersten Wetterumschwung. Da sitzt man beim Frühstück noch in der Sonne und malt sich Gipfelbilder aus, und zehn Minuten später steht man im Nebel wie in einem skandinavischen Krimi. Regen, Wind, plötzlich klare Sicht – alles innerhalb einer Stunde. Flexibilität wird da zur eigentlichen Königsdisziplin.
So hat sich auch unser ursprünglicher Plan angepasst: Aus der strikten Etappen-Choreografie wurde ein variables Abenteuer – mal kürzer, mal länger, mal mit Umwegen, mal mit Aussicht, manchmal auch ohne. Am Ende gilt: Wer in den Bergen unterwegs ist, plant mit Karte – und wandert mit Gelassenheit.
Kleiner Rat am Rande:
So charmant digitale Helfer auch sind – eine Bergtour plant man besser nicht ausschließlich mit ChatGPT. Hübsche Texte, ja. Höhenmeter? Mit Vorsicht zu genießen. Denn was hier nach Poesie klingt,
kann draußen schnell lebensgefährlich werden. Also: Karte lesen, Wetter checken, und im Zweifel lieber die Bergführerin fragen als die KI.
Trotz Nebel entscheiden wir uns für den längeren Höhenweg zum Hüttentobel – ein Pfad, der bei Sonnenschein sicher spektakulär wäre. Heute allerdings bleibt der Nebel hartnäckig, und so wandern wir durch ein endloses Grau in Grau.
Nur die Blumen am Wegrand setzen kleine Farbtupfer, fast wie Widerstand gegen die Tristesse.
Gott sei Dank ist Sonntag: Viele Wanderer sind unterwegs, herauf Richtung Meglisalp – was uns immerhin bestätigt, dass wir auf dem richtigen Weg sind. Begleitet werden wir von einem ständigen „Grüezi mitenand“, das wie ein freundliches Echo durch den Nebel hallt.
„Grüezi mitenand“
Im Alpstein merkt man schnell: Der Appenzeller Dialekt ist kein Dialekt, das ist Hochleistungssport fürs Gehör. Ein freundliches „Grüezi mitenand“ klingt wie ein musikalischer Jodel im Schnelldurchlauf – freundlich, aber für Nicht-Eingeweihte kaum dechiffrierbar. Wir lächeln also klug, nicken wissend und grüßen zurück – meistens in unserem österreichischen Standardprogramm: ein knappes „Grias eich“ oder „Hallo“.
Und das Schönste: Am Berg grüßt man immer. Selbst wenn man gerade völlig außer Atem ist, schiebt man noch ein „Grüezi“ oder „Hoi zäme“ raus – klingt dann zwar manchmal wie ein Asthmaanfall, aber es zählt der Wille. Wandern im Appenzell: auch ein Sprachkurs, gratis zum Höhenmeter.
Als wir schließlich beim Seealpsee ankommen, erleben wir den vielleicht berühmtesten See der Ostschweiz in einer Art „Nebelfilter“. Von türkisgrünem Instagram-Glanz keine Spur, nur graues Wasser,
graue Luft, graue Stimmung.
Und trotzdem ist er voll – Sonntag eben. Zwischen Picknickdecken und Selfiesticks fragen wir uns, worin genau der Hype liegt.
Nach einem Mittagessen auf der schönen Seeterrasse des Gasthauses Forelle am See umrunden wir den See – noch immer keine Euphorie, eher die nüchterne Erkenntnis, dass der Seealpsee wohl einfach nicht unser Ort ist.
Also machen wir uns auf den Abstieg nach Wasserauen. Der Säntis ist vom Tisch, und so beschließen wir kurzerhand, noch heute bis Buchs zu fahren und morgen früh den ersten Zug nach Hause zu nehmen.
Der Abstieg dauert rund eine Stunde – und er hat es in sich. Steiler, steiniger und fordernder, als es die Wegweiser vermuten lassen. Hochachtung an alle Turnschuhtouristen und Familien mit kleinen Kindern, die sich hier tapfer nach unten arbeiten. Wir sind froh um jedes Profil an unseren Sohlen und jede Stufe, die uns heile Richtung Tal bringt.
Unten im Tal angekommen, wartet schon das „rote Bähnli“ – unser Ticket zurück in die Zivilisation.
Schnell noch zwei Zugkarten gezogen, rein in den Waggon – und plötzlich der Schock: Ich habe nur ein Ticket in der Hand. „Da war sicher nur eines“, behaupte ich noch, doch die Zweifel nagen. Also raus aus der Bahn, Herzklopfen inklusive – und tatsächlich: Das zweite lag noch seelenruhig im Automatenfach.
Nun schnell zurück , Blick auf die Uhr: Der Zug ist eigentlich schon verloren. Wir sehen uns geistig schon in Wasserauen stranden. Aber wie durch ein Wunder klappt alles und wir sitzen tatsächlich im Zug. Von entspanntem Ausklang keine Rede – das war Stress pur!
Es sind nicht die perfekten Momente, die hängen bleiben, sondern die kleinen Pannen, über die man später lachen kann. Und davon hatten wir genug.
Alpstein-Hoppalas – unsere ganz persönliche Sammlung
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Die Seilbahn-Panik: hysterisch die Geldbörse gesucht – sie war natürlich sicher verstaut. Dafür habe ich den Anblick aufs Wildkirchli verpasst.
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Die Regenjacken-Ironie: Zwei (!) Regenjacken im Rucksack, und trotzdem stapfe ich im Regen ohne.
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Der falsche Weg: Statt über die Altenalp landen wir über den Streckenbergsattel am Mesmer. Steiler, länger, nervenaufreibender – aber immerhin eine Geschichte wert.
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Das Ticket-Drama: Am Automaten brav zwei Tickets gekauft – aber nur eines mitgenommen. Schon im Zug nochmal rausgesprintet und das zweite gerade noch erwischt.
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Die Jeton-Dusche: 8×15 Sekunden Wasser. Shampoo drauf, Wasser aus, Jeton leer. Improvisation ist alles.
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Hüttenpantoffeln: Hüttenschuhe vergessen und die einzigen freien Pantoffeln hatten gefühlte 147 Vorbesitzer
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Die Zahnbürste: Vergessen. Zum Glück hatte die Hüttenwirtin eine – für 6,50 Franken. Immerhin frisch aus der Blisterpackung.
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Der Hosen-Fail: Wunderschönes Panorama, perfektes Licht – und das Foto ruiniert, weil die Hose rutscht. Gürtel? Natürlich daheim gelassen.
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Die tierische Einlage: Eine Kuh blockiert den Weg – und schaut dabei, als hätte sie Hausrecht (was ja stimmt).
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Hoppala #10 – Termin-Irrtum
Plötzlich der Geistesblitz: „Dienstags um 9:00 hab ich einen Termin!“ – dumm nur, dass ich einen Tag vorher theoretisch noch auf dem Säntis stehe. #OutOfOfficeRebell
„Der Moment, wenn du merkst: Das war nicht der Gipfel – das war erst die Hälfte.“
„Diese Wanderung war mehr als eine sportliche Herausforderung – sie war fast so etwas wie eine Zäsur. Eine Unterbrechung des Alltags, ein Einschnitt, der Körper und Geist gleichermaßen prüft. Man lernt, wie wenig man wirklich braucht, wie wichtig Flexibilität ist, und dass es manchmal mehr Mut erfordert, umzukehren als weiterzugehen. Jede Etappe wird zum Spiegel: praktisch, weil man lernt mit Regenjacken, Jetons und müden Beinen umzugehen – und philosophisch, weil man begreift, dass Gelassenheit, Dankbarkeit und Humor die eigentlichen Gipfelsiege sind.“
Am schönsten an all den Höhenmetern, Nebelbänken und Hoppalas war allerdings die gemeinsame Zeit. Mit meiner Tochter unterwegs zu sein heißt lachen, wenn eigentlich Jammern angesagt wäre, Augenrollen statt Drama und ein stilles Verständnis, das ohne Worte funktioniert. Zwischen Kuhglocken, Gipfelkreuzen und verpassten Tickets wurde mir klar: Der eigentliche Luxus dieser Reise war nicht das Panorama – sondern die Gesellschaft.
Und am Ende braucht’s nicht viel: einen Plan, die Nonchalance, ihn scheitern zu sehen, ein Herz voller Dankbarkeit – und ein Geldbeutel, der auch Schweizer Preise überlebt.